
DIE KUNST DER INTERPRETATION
Erfolg im Fußball ist keine Glückssache. Er entsteht dort, wo stabile Strukturen auf kluge Köpfe treffen. Vicente del Bosque und Vincent Kompany nutzen dieselbe Formation, interpretieren sie aber auf ihre eigene Art und Weise. Frankreich schafft mit 16 Elite-Akademien den Rahmen für Spitzentalente. Und Jonas Scheuermann zeigt, wie Brighton durch klare Aufgabenverteilung im Trainerteam funktioniert. Das verbindende Element? Erfolgreiche Coaches berufen sich auf stabile Strukturen und füllen sie mit ihrer eigenen Handschrift. Rein in den Herbstkick!
THEMA DES MONATS
Die Renaissance des 4-2-3-1
Eine Formation beschreibt, wie Spieler den verfügbaren Raum auf dem Spielfeld besetzen. Zur Beschreibung hat sich ein Nummernsystem durchgesetzt: Jede Zahl gibt die Anzahl der Spieler in den verschiedenen Reihen an. Die erste Zahl bezeichnet die Verteidiger, die zweite die Mittelfeldspieler, die dritte die Stürmer. Eine 4-3-3-Formation besteht somit aus vier Verteidigern, drei Mittelfeldspielern und drei Stürmern.
Die Formation dient als Ausgangspunkt für taktische Überlegungen. Sie bildet somit ein Grundgerüst, das den Spielern eine Vorstellung davon vermittelt, welche Aufgaben sie auf dem Platz zu erfüllen haben und wie sich ihre Mitspieler in bestimmten Situationen verhalten. Die Formation orientiert sich deshalb auch immer an den Fähigkeiten der Spieler und sollte diesen angepasst werden.
Aufbauend auf einer Formation als Basis kann ein Trainer dann sein eigenes System umsetzen. Ein System legt fest, wie die Spieler die Formation ausführen. Dabei kann es sich einerseits um grundlegende mannschaftstaktische Ausrichtungen handeln, wie beispielsweise eine defensive Ausrichtung oder ein schnelles Umschaltspiel. Andererseits berücksichtigt das System auch individualtaktische Vorgaben für einzelne Positionen. So kann ein Mittelstürmer offensive Tiefenläufe forcieren, das Flügelspiel unterstützen oder auch ein frühes Pressing einleiten.
Fußball ist ein Trendgeschäft. Was bei einem Trainer funktioniert, probieren andere aus. Was nicht funktioniert, lässt man meist kollektiv bleiben. Formationen bilden da keine Ausnahme. Manche Formationen verschwinden für Jahre in der Versenkung, andere werden regelmäßig genutzt, wieder andere erleben überraschende Comebacks.
Das 4-2-3-1 gehört zu Letzteren. Während in den letzten Jahren erst das 4-3-3 und später hybride Dreierketten als State of the Art galten, geriet diese früher in den 2010er Jahren sehr ausgiebig genutzte Formation nahezu in Vergessenheit. Bis jetzt. Die Vergessenheit scheint Vergangenheit. Die Gründe sind nachvollziehbar: Die Doppelsechs bietet Stabilität gegen vertikales Umschaltspiel, während die offensive Dreierreihe Kreativität im Zwischenlinienspiel und Breite kombiniert.
Es gibt keine offensiven Formationen. Ebenso gibt es keine defensiven Formationen. Grundsätzlich kann aus jeder Formation sowohl offensiv als auch defensiv agiert werden. Es gibt jedoch Grundausrichtungen, die eine offensive oder defensive Herangehensweise begünstigen. Und es gibt Formationen, die als ausgeglichener gelten. Eine solche flexible Formation ist das 4-2-3-1. Für Mannschaften, die eine Balance zwischen Offensive und defensiver Stabilität suchen, kann es sinnvoll sein, in einem 4-2-3-1 zu agieren.
Zwei Trainer, eine Formation, unterschiedliche Systeme
Vicente del Bosque etablierte das 4-2-3-1 als Referenz für modernen Ballbesitzfußball. Mit Busquets und Xabi Alonso als Doppelsechs, Xavi als zentralem Spielmacher und Iniesta sowie Silva auf den Flügeln dominierte Spanien durch technische Überlegenheit und taktische Disziplin über Jahre hinweg den Weltfußball. Insbesondere die EM 2012 demonstrierte die Stärken des spanischen Systems: präzise Ballzirkulation, hohe Defensivlinie, konsequentes und ausgesprochen geduldiges Positionsspiel. Das Resultat war nicht nur sportlicher Erfolg, sondern ein taktisches Vermächtnis, das bis heute nachwirkt.
Hätte der Torspieler übrigens in unserem Beispiel taktische Relevanz, würden wir hier von einem 1-4-2-3-1 sprechen 🤓

Fast forward ins Jahr 2025: Vincent Kompany adaptiert das 4-2-3-1 für die Anforderungen des zeitgenössischen Hochintensitätsfußballs. Seine Variante bei Bayern München verbindet Ballbesitz mit Direktheit und kontrolliertes Positionsspiel mit hohem Pressing. Die Außenverteidiger agieren situativ flexibel, die Doppelsechs sichert Räume ab, während die Offensive Tempo und Spielfreude an den Tag legt.

Beide Mannschaften agieren also in einer 4-2-3-1 Grundformation. Beide waren oder sind erfolgreich. Beide auf ihre Art und Weise. Die Formation ist identisch, das System aber grundverschieden.
Die Aufstellung ist also nur der Rahmen. Wie du ihn interpretierst, ist entscheidend. Denk immer dran, dass die Formation nur dein Ausgangspunkt ist. Anhand dieser grundsätzlichen Ausgangslage kannst du deine Formation zu deinem System machen. Schraube an Positionierungen, gib Spielern einen Rahmen, lass aber auch genügend Freiraum! Keine Formation sollte ein starres Konstrukt und auch kein in sich geschlossenes taktisches Prinzip sein.
In den kommenden Wochen nehmen wir weitere Formationen unter die Lupe: das klassische 4-4-2, das offensivere 4-3-3 und das flexible 3-5-2. Jede Formation begünstigt eine andere taktische Ausrichtung, jede hat ihre Stärken und Schwächen.
Das ist für dich aber erst der Anfang. In der Academy findest du im Modul "Formationen" schon jetzt alle wichtigen Aufstellungen des modernen Fußballs im Detail analysiert.
ZAHL DES MONATS
16
Strukturen funktionieren nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Ausbildung. Frankreich beweist das seit Jahrzehnten. 16 Elite-Akademien bilden das Rückgrat eines der erfolgreichsten Ausbildungssysteme weltweit. Das Flaggschiff: Clairefontaine, 1988 eröffnet und bis heute das Vorbild für strukturierte Talentförderung.
Jedes Jahr werden nur etwa 22 Jungen aus der Region Paris in diese Elite-Akademie aufgenommen. Selektiert wird nach hartem Auswahlverfahren mit Fokus auf Technik, Taktik, Persönlichkeit und Schulleistung. Der Fokus liegt auf technischer und kreativer Ausbildung. Ballkontrolle, Dribbling, beidfüßiges Spiel. Erst später kommen Taktik und Teamplay. Dazu profitieren die Talente von psychologischer Betreuung, medizinischer Unterstützung und schulischer Förderung. Ein ganzheitlicher Ansatz, der funktioniert.
Nach diesem Vorbild decken weitere 15 Akademien Ballungsräume und fußballaffine Regionen ab, sogar Übersee-Gebiete wie Réunion und Guadeloupe sind integriert. Das Konzept ist simpel: klare Strukturen, langfristige Planung, konsequente Umsetzung. Andere Nationen schauen neidisch nach Frankreich und versuchen zu kopieren, was dort über Jahrzehnte gewachsen ist: Ein Ausbildungskonzept, das individuelle Talente fördert und auch mal einen Jungen direkt vom Bolzplatz scoutet und fördert.
KABINENGEFLÜSTER
Struktur auf allen Ebenen
Jonas Scheuermann zeigt, wie Trainer-Teams strukturiert arbeiten
Auch die besten Strukturen sind wertlos ohne die richtigen Menschen dahinter. Jonas Scheuermann, Co-Trainer von Fabian Hürzeler bei Brighton, gewährte beim vergangenen Profi-Event exklusive Einblicke in seine Rolle. Er analysierte Spielszenen, stellte Trainingsübungen vor und gab Insights in die Zusammenarbeit mit dem Cheftrainer.
Die Quintessenz, die die 115 Teilnehmenden mitnehmen konnten: Hinter jedem erfolgreichen Cheftrainer steht ein starkes Team, das die Strukturen auf und neben dem Platz mit Leben füllt. Ein wichtiges Learning: Jeder Teil des Trainerteams sollte eine Rolle finden, die zum eigenen Charakter passt. Dabei ist es wichtig, einander zu vertrauen und die Aufgaben so zu verteilen, dass die Stärken im Team optimal genutzt werden. Jedes Mitglied im Trainerteam braucht Aufgaben, die zu den eigenen Talenten passen. Und den Mut, Verantwortung auch mal abzugeben.
Uns hat übrigens eine ganze Ladung wundervolles Feedback erreicht, danke! Da dieses Event so gut angekommen ist, bemühen wir uns, bald wieder eine ähnliche Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Wir peilen mal das nächste Frühjahr 2026 an.
Alle Premium-User unserer Academy sind bei diesen Profi-Vorträgen übrigens kostenlos dabei. Die wichtigsten Inhalte von Jonas' Vortrag und der Diskussion danach bereiten wir in den kommenden Wochen auf und stellen sie dann in der Academy zur Verfügung.
Taktik Deep Dive: neue Strukturen, neue Inhalte
Auch wir entwickeln still und heimlich unsere Strukturen weiter. Der Game Guru Kurs heißt jetzt "Deep Dive Taktik". Neue Grafiken, inhaltlicher Feinschliff, mehr taktische Elemente und Konzepte im Glossar. Wer tiefer in die taktischen Feinheiten einsteigen will, findet hier den passenden Rahmen.
ABPFIFF
Mach doch einfach dein eigenes Ding
Der rote Faden durch diesen Monat? Strukturen schaffen Möglichkeiten, aber die persönliche Interpretation macht den Unterschied. Del Bosque und Kompany nutzen dieselbe Formation, entwickeln daraus aber unterschiedliche Systeme. Beide waren oder sind erfolgreich, weil beide authentisch bleiben. Frankreich zeigt, dass Ausbildungsstrukturen funktionieren, wenn sie langfristig angelegt und konsequent umgesetzt werden. Und Jonas Scheuermann erinnert uns daran, dass auch die beste Teamstruktur nur dann trägt, wenn die richtigen Menschen sie interpretieren.
Die Lehre für dich als Trainer? Kopiere nicht blind, was andere erfolgreich macht. Verstehe die Prinzipien, adaptiere sie an deine Realität, interpretiere sie mit deiner Persönlichkeit. Das 4-2-3-1 ist nur eine Formation. Wie du sie interpretierst, welches System du daraus entwickelst, ist viel wichtiger. Der gleiche Grundgedanke greift auch bei der Arbeit im Trainerteam. Schließe von anderen Situationen nicht auf deine eigene. Forme ein Team, das aus den individuellen Stärken aller Mitglieder ein stabiles Konstrukt formt, in dem Verantwortung auf mehrere Schultern übertragen wird. Der Rahmen schafft Möglichkeiten. Die Interpretation sorgt für Erfolg.
Gut Monatskick allerseits! 🫰🏼

